Das indische Aadhaar-System gilt offiziell als Instrument zur „effizienten und transparenten“ Verteilung staatlicher Leistungen. Doch hinter der biometrischen Erfassung von über einer Milliarde Menschen verbirgt sich eine lange Geschichte institutioneller Unklarheiten und privater Einflussnahme. 2006 wurde das Projekt vom damaligen Kommunikationsministerium angestoßen, die strategische Vision für eine nationale Datenbank entwickelte jedoch das Beratungsunternehmen Wipro im Auftrag eines Regierungs-Komitees. Trotz Urteilen des Obersten Gerichtshofs, die zentrale Teile des Aadhaar-Acts für verfassungswidrig erklärten, blieb die Rolle privater Firmen wie Wipro sowie ausländischer Akteur*innen (Accenture, Ernst & Young, Idemia) weitgehend unangetastet. Prüfberichte des indischen Rechnungshofs deckten zudem wiederholt Missmanagement, überhöhte Kosten und Auftragsvergabe ohne Ausschreibungen auf.
Besonders problematisch ist die Verwischung der Grenzen zwischen „Individuum“, „Bewohner*in“ und „Bürger*in“. So können auch Nicht-Resident*innen eine Aadhaar-Nummer erhalten, was die jüngsten Entscheidungen des Supreme Court, Aadhaar als Nachweis bei Wähler*innenlisten zuzulassen, hochgradig brisant macht. Kritiker*innen verweisen darauf, dass sensible biometrische Daten nicht nur ohne echte Einwilligung gesammelt, sondern auch privaten Firmen zugänglich gemacht wurden. Dass der Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit des gesamten Projekts noch gar nicht abschließend geprüft hat, verstärkt die Sorge, Aadhaar könne zum Einfallstor für umfassende staatliche wie privatwirtschaftliche Kontrolle über die Daten der gesamten Bevölkerung werden.